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Knapp hundert Meter vor der alten Mauer laufen die Vorbereitungen für den Guss der Bodenplatte der hier geplanten Mischanlage

Drahtseilakt im Hochgebirge

Das Sorgenkind der Kraftwerke Oberhasli AG ist die Spitallamm: Durch die 114 Meter hohe Staumauer eines Pumpspeicherkraftwerks in den Alpen des Berner Oberlandes zieht sich ein langer Riss. Jetzt soll eine neue Staumauer vor die in den dreißiger Jahren fertiggestellte alte Mauer gesetzt werden

Historisches Foto der Bauarbeiten 1930 bei Erstellung der alten Bogengewichtsmauer am Grimsel

Bei der gewaltigen Bogenstaumauer des Grimselsee-Wasserkraftwerks in den Alpen des Berner Oberlandes gibt es ein Problem: Sie leidet unter einer sogenannten vertikalen Bauwerkstrennung. Das heißt, das 114 Meter hohe Bauwerk besteht, unbeabsichtigt, letztlich aus zwei Schalen – dem wasserseitigen Vorsatzbeton und dem Richtung Tal weisenden Massenbeton. Letzterer wird nach unten hin immer dicker und erreicht auf dem Talgrund eine Stärke von weit über 75 Metern. Er ist damit für die eigentliche Festigkeit des Bauwerks verantwortlich. Die zum Stausee gewandte Betonschicht hingegen ist von gleichbleibende Stärke und sorgt in erster Linie für eine zuverlässige Abdichtung des Staumauer. 

 

 

 

 

 

 

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Zwischen beiden Schichten hatte man damals zwischen 1926 und 1932 beim Bau der Staumauer einen Spalt gelassen, damit die beim Aushärten der äußeren, enorm dicken Betonschicht entstehende Wärme nicht zu einer Beschädigung der Wasserschicht führt. Dieser Spalt wurde später ebenfalls mit Beton gefüllt, um beide Bauwerksteile miteinander zu verbinden. Doch diese Verbindung stellte sich, wie man bei Untersuchungen in den sechziger Jahren herausfand, offenbar nur unzureichend ein. 

Schnittzeichnung durch die alte Staumauer: Der Vorsatzbeton (blau) trennt sich vom Massenbeton (grün)

Die Vorsatzbetonschicht der in der Region „Spitallamm“ genannten Staumauer hatte mit anderen Worten begonnen, sich vom Rest der Mauer zu lösen und sich in den Grimselsee hinein zu bewegen. Bei einer neuerlichen Bestandsaufnahme, die im Zusammenhang mit einer möglichen Erhöhung der Staumauer verbundenen erwogenen Sanierung erfolgte, stellte sich heraus, dass dieser Ablösungsprozess weiter vorangeschritten war. Schlimmer noch: Es wurden Anzeichen für eine mit hoher Wahrscheinlichkeit in der Massenbetonschicht einsetzende Alkali-Kieselsäure-Reaktion gefunden. Diese umgangssprachlich auch als Betonkrebs bekannte Reaktion führt zu einer allmählichen Schwächung des Betons.

Eine neue Staumauer muss her 

Was wiederum Zweifel nährte, dass die alte Mauer bei einem stärkeren Erdbeben eventuell dem Wasserdruck des Stausees am Grimselpass nicht mehr standhalten könnte. Weil zudem auch die Verlandung der Talsperre so weit vorangeschritten war, dass sie die Grundablassinstallationen auf der Wasserseite zu versperren drohte, sah die Kraftwerke Oberhasli AG (KWO) von einer Sanierung ab und beschloss den Bau einer neuen Bogenstaumauer, die unmittelbar vor der alten Mauer auf der talzugewandten Seite zu stehen kommen soll.

Das Kraftwerk bleibt am Netz

Dieses Bild wird sich ab 2025 bieten. Die doppelt gekrümmte neue Staumauer wird dicht vor der alten Mauer plaziert

Die alte Staumauer, so der Plan, würde dabei an Ort und Stelle verbleiben und im Falle einer Genehmigung der Aufstockung komplett vom Wasserstand des dann um 23 Meter höheren Grimselsees überflutet werden. Zuvor allerdings würde die alte Staumauer dafür sorgen, dass der von Gletschern gespeiste See mit einem Volumen von rund 100 Millionen Kubikmetern Wasser während der gesamten Bauzeit nicht abgelassen werden muss. Das wiederum hätte den Vorteil, dass die Stromgewinnung dieses mit Abstand leistungsfähigsten Kraftwerks der KWO in unvermindertem Maße weiter laufen könnte. 

Überdies war es so möglich, die neue Mauer im Trockenen zu bauen. So wurde denn mit Einsetzen der Bauarbeiten im letzten Jahr zuvorderst begonnen, links und rechts von der alten Staumauer zwei Schlitze aus dem Fels zu sprengen, um die neue Mauer dort einzuklemmen. Damit der Wasserdruck des Grimselsees nach ihrer Fertigstellung durch die neue Staumauer aufgefangen werden kann, ist es zudem erforderlich, neben der alten Mauer einen Stollen für den hydraulischen Ausgleich des Wasserspiegels durch den Fels zu treiben.

Beispielloses Vorhaben

Bohrungen am Steilhang: Um die Schlitze zur Verankerung der neuen Mauer in den Fels zu treiben, muss gesprengt werden

Alles in allem also ein einzigartiges Konzept, für das es keine Parallelen gibt. Demgegenüber weist die neue, doppelt gekrümmt auszuführende Mauer an sich keine Besonderheiten auf. Ihre Kronenhöhe soll zunächst ebenso wie bei der bisherigen Staumauer bei rund 113 Metern liegen, was in einer Kronenlänge von etwa 212 Metern resultiert. Damit entsteht hier in den nächsten Jahren erneut ein gewaltiges Bauwerk, für dessen Erstellung ein enormes Betonvolumen von ca. 220.000 Kubikmetern erforderlich sein wird. 

Bei dieser Größenordnung wiederum war ein eigenes Mischwerk direkt an der Baustelle unverzichtbar. Nur so ist angesichts des geforderten Einbauvolumens jederzeit eine ausreichende Versorgung mit Frischbeton gewährleistet. Hinzu kommt, dass man so aus dem anfallenden Ausbruchmaterial das benötigte Zuschlagsmaterial für den Beton gewinnen kann. So stand für den Beginn der Bauarbeiten neben den nötigen Sprengungen auch die Erstellung einer rund 900 Quadratmeter großen Bodenplatte an, die in unmittelbarer Nachbarschaft zur vorgesehenen Position der neuen Staumauer das Fundament für das Betonmischwerk bilden soll.

Bei nur 18 Metern Hakenhöhe realisiert der MK 88 Plus dennoch 45 Meter Reichweite. Unter den erschwerten Bedingungen mit einer Seilbahn in nur 30 Metern Höhe das ideale Arbeitsgerät

Für beides galt es zudem, einen eng gesteckten Zeitplan einzuhalten. Die Baustelle mitten im Gebirge auf rund 1.900 Metern Höhe diktiert aufgrund der harschen Bedingungen im Winter eine Aufteilung der Bauarbeiten in Etappen, die sich jeweils von Mai bis Oktober erstrecken. Trotz der Arbeit an sieben Tagen pro Woche ist für die Fertigstellung der neuen Staumauer ein Zeitraum von sechs Jahren veranschlagt.

Erschwerte Bedingungen 

Die Schweizer Frutiger AG als Generalunternehmer für den Neubau stand bei den Gründungsarbeiten für das Betonmischwerk allerdings vor einer großen Herausforderung. Direkt über dem Baufeld in etwa 30 Metern Höhe verrichten nämlich zwei Materialseilbahnen zur Versorgung des in direkter Nachbarschaft zur Staumauer gelegenen Grimsel Hospiz ihren Dienst. Ein herkömmlicher Mobilkran hätte aufgrund der begrenzten Höhe und des nutzbaren Raums bei sehr vielen Hüben teleskopieren müssen. 

Schnell realisierte das Unternehmen, dass dies das ideale Einsatzszenario für den ein Jahr zuvor angeschafften Liebherr MK 88 Plus sein würde, der hier seine Stärken voll ausspielen konnte. Mit eingefahrenem Turm in der Lage, auch bei nur 18 Metern Hakenhöhe zu arbeiten, war es dennoch möglich, die volle Länge des 45 Meter weit reichenden horizontalen Auslegers zu nutzen, der so bei seinen Schwenkvorgängen den Seilbahnen nicht in die Quere kommen konnte. 

Aus der Kabine hat der Kranfahrer die Baustelle bestens im Blick

Die unter diesen Bedingungen gegenüber einem konventionellen Mobilkran um 20 Prozent höhere Umschlagleistung des Krans schlage sich, wie Reto Mathis, Leiter der Mobilkran-Sparte bei der Frutiger, am Ende resümierte, bei über 1.600 Hüben, bei denen der MK 88 Plus Lasten wie Baustahl, Container oder kleines Gerät am Haken hatte spürbar nieder. In der Intensivphase habe sich die Arbeit auf bis zu 15 Hübe pro Stunde geballt. Als weiterer unschätzbarer Vorteil des Krans erwies sich überdies die Möglichkeit, den Liebherr-Mobilbaukran MK 88 Plus während des zweiwöchigen Einsatzes im Hochgebirge durchgängig mit Baustellenstrom zu betreiben, was die Emissionsbelastung in dem engen Tal deutlich zu reduzieren half.

Chancen für die Zukunft

Noch ist im Übrigen die eventuelle Aufstockung der neuen Staumauer, gegen die Umweltverbände geklagt hatten, nicht vom Tisch. Die neue Mauer ist so dimensioniert, dass sie eine Erhöhung um 23 Meter durchaus erlaubt. Durch diese Maßnahme könnte das Volumen des Stausees um 75 Millionen Kubikmeter (79 Prozent) vergrößert werden. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht. Strommangel ist nach Einschätzung des Schweizer Bundesamtes für Bevölkerungsschutz im Moment in der Schweiz das größte Risiko. Doch auch wirtschaftlich kann sich diese Erweiterung auszahlen. Pumpspeicherkraftwerke können Strom nämlich oft sehr günstig kaufen und manchmal sogar kostenlos oder gar zu einem negativen Preis (d.h. sie erhalten Geld dafür, dass sie den Strom abnehmen) nutzen.

Der Einstieg in die Kabine des Krans erfordert keine Akrobatik